Masern, HPV & Co.: Warum so viele Kinder nicht geimpft sind
Viele Kinder in Deutschland sind unzureichend geimpft, obwohl ihre Eltern meist nicht gegen das Impfen sind. Was Politik und Gesellschaft tun, um die Quote zu verbessern.
Dieser Text aus dem stern-Archiv erschien zuerst am 7. September 2023. Aufgrund einer steigenden Zahl von Masernfällen in Europa veröffentlichen wir ihn an dieser Stelle erneut.
Wenn ein Kind nicht gegen Masern oder HPV (Humane Papillomviren) geimpft ist, vermuten viele, die Eltern seien hartgesottene Impfverweigerer. Eben Leute, die Impfungen für Teufelszeug halten, weil sie gefährliche Nebenwirkungen hätten. Aber stimmt das tatsächlich, oder steckt etwas ganz anderes dahinter?
Wer nachforscht, stößt auf Überraschendes. Zum einen: Jedes Jahr fragt die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZGA) in einer repräsentativen Erhebung die Einstellung der Bevölkerung zum Impfen ab. Dabei zeigt sich über die Jahre ein kontinuierlicher Trend: Immer mehr Menschen stehen Impfungen positiv gegenüber. 2022 befürworteten 83 Prozent der Bevölkerung hierzulande bundesweit Impfungen zur Gänze oder überwiegend. Vor zehn Jahren lag der Anteil der Fürsprecher noch bei 61 Prozent.
Impfquote: Impfverweigerer sind eine kleine, laute Minderheit
Personen, die Impfungen ganz klar ablehnen, sind dagegen „eine laute, aber sehr kleine Minderheit“, sagt der Sozialwissenschaftler Christian Hunkler von der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Jahren sind es in der BZGA-Umfrage gleichbleibende drei Prozent. Der Anteil, der der Impfung unschlüssig gegenübersteht, ist schon größer und liegt bei 14 Prozent.
Wieso aber sind dann weniger als die Hälfte der Kinder gegen HPV geimpft, was Mädchen und Frauen vor Gebärmutterhalskrebs schützen würde, an dem jedes Jahr 1500 Personen hierzulande sterben? Und wieso lag die Masern-Impfquote bei der Schuleingangsuntersuchung 2020 trotzdem „nur“ bei 93 Prozent – und damit niedriger als die drei Prozent der überzeugten Impfgegner vermuten ließen?Je mehr Menschen geimpft sind, desto seltener wird die jeweilige Krankheit
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Die tatsächlichen Gründe deuten sich bei näherem Hinsehen in den Zahlen selbst an: Die erste kombinierte Masern-Mumps-Röteln-Impfung bekommen noch über 97 Prozent der Kinder, doch bei der zweiten sind es nur mehr 93 Prozent. Vier Prozent der Familien verpassen oder vergessen schlicht die zeitgerechte zweite Impfung.
Den bestmöglichen Schutz bietet nur eine vollständige Impfserie
Diese Personen als Impfverweigerer hinzustellen ist eine falsche Anschuldigung. So viel Ehrlichkeit bekam auch die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung zu hören, als sie nach den Gründen fürs Nichtimpfen fragte: 47 Prozent der Betroffenen gaben unumwunden zu, den Termin verschwitzt zu haben.
Auch bei der HPV-Impfung gibt es jene Lücke zwischen der ersten und zweiten Impfung. 63,3 Prozent haben einen Piks erhalten, aber nur 51,1 Prozent den zweiten. Nicht gefragt wurde, ob manche glauben, einmal sei besser als keinmal. Auch eine solche Auffassung könnte ja begünstigen, dass der zweite Gang zur Arztpraxis hintangestellt wird. Die Ständige Impfkommission stellt gleichwohl klar: Den bestmöglichen Schutz bietet nur eine vollständige Impfserie.
Wie kommt es dazu, dass Familien eine Impfung für ihr Kind vergessen? Und auch da geben die Daten interessante Einblicke. Jene, die es mit den Terminen schaffen, vertrauen dem medizinischen Betrieb mehr und trauen auch Medikamenten mehr zu, erbrachten Forschungen der Universität Erfurt. Außerdem heben sie den Beitrag für das Gemeinwohl hervor: Je mehr Menschen geimpft sind, desto seltener wird die jeweilige Krankheit.
Zu viel Stress, um zum Arzt zu gehen
Eltern, die ungeimpfte oder nur teilgeimpfte Kinder hatten, gaben dagegen vor allem deutlich mehr Stress, Zeitnot und auch finanzielle Hürden an. Sie bekommen kaum ihren eigenen Alltag organisiert. Generell hatten sie einen schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Hinzu kam, dass sie eine Infektion, etwa die Masern, weniger fürchten als die geimpften Kreise.
Diese überraschenden Aspekte erinnern an eine Studie des Robert Koch-Instituts zu Alleinerziehenden, die offenbarte, dass ein erheblicher Teil unter ihnen nicht zur Zahnarztvorsorge geht. Nicht aus mangelnder Einsicht, zumal sie vorher als Nicht-Alleinerziehende ja gingen, sondern aufgrund der stressigen Lebenslage.
Ein Beispiel: Wenn eine Familie mit zwei Kindern die Impfung unterlässt, weil die Mutter in Nachtschichten in einer Medizintechnikfirma arbeitet und der aus Israel stammende, ebenfalls berufstätige Vater kein Deutsch spricht, rückt das die Sache in ein anderes Licht. Mit Blick auf solche Zusammenhänge mahnt die Vorsorgeforscherin Ingrid Mühlhauser: „Wer Gesundheitsversorgung verbessern möchte, muss die soziale Lage der Menschen kennen und verbessern.“
In der Diskussion über ungeimpfte Kinder wurde bisher der Alltag der Familien ausgeblendet und dagegen der Stellenwert von Information betont. Etliche Fachaufsätze widmen sich der Frage, wie sehr das Internet und soziale Medien die Impfskepsis anfachen. Die Studien zeigen: Tatsächlich lesen nur die drei Prozent der überzeugten Impfgegner wirklich viel und dann auch jene Quellen, die ihre ablehnende Haltung bestärken. Das unterscheidet sich aber nicht etwa von der übrigen Bevölkerung. Es ist gut untersucht, dass Menschen ganz generell lieber das lesen, was ihre bestehende Haltung festigt, als sie infrage zu stellen.
Mangelndes Wissen zu Impfungen
Die meisten lesen aber praktisch nichts zur Impfung. So ist es auch zu erklären, dass zwar drei von vier Eltern schon einmal gehört haben, dass sie ihr Kind zwischen dem neunten und zwölften Lebensjahr gegen das Genitalvirus HPV impfen lassen sollten. Aber „viele trauen sich gar keine eigene Einschätzung zu der Impfung zu“, berichtet Gesundheits-Kommunikationsforscherin Dorothee Heinemeier von der Universität Erfurt. Sie haben schlicht noch nie gehört, dass verschiedene Typen des Humanen Papillomvirus für Gebärmutterhalskrebs bei Frauen und für Analkrebs bei Männern verantwortlich sind. Sie werden beim Sex übertragen, und die Viren sind durchaus häufig.Nur jeder zweite Jugendliche in Deutschland ist gegen das Humane Papillomvirus geimpft. In den Niederlanden liegt die Impfquote ähnlich niedrig. Eine öffentliche Kampagne per Impfbus sprach dort junge Menschen direkt an
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Eine Impfung schützt vor diesen Infektionen und damit vor diesen Krebserkrankungen. Der Schutz liegt zwar nicht bei 100 Prozent, ist aber immerhin so hoch, dass in Australien eine Debatte zur möglichen Ausrottung dieser Krebsarten geführt wird. Dem finnischen Krebsregister zufolge bekam bisher kein einziges geimpftes Mädchen Gebärmutterhalskrebs, aber acht aus der Gruppe der Ungeimpften. Für ein abschließendes Urteil zur Wirksamkeit müssen aber noch mehr Jahre vergehen.
Fast immer entscheiden die Mütter übers Impfen
Es ist aber nicht primär solch medizinisches Wissen, das über das Impfverhalten von Menschen entscheidet. Es sind zuvorderst eigene Erfahrungen und Geschichten. Diesen Schluss lässt die bisherige Forschung ebenfalls zu. Eine einzige Erzählung über eine fiktive oder tatsächliche Impfnebenwirkung lässt die eigene Zurückhaltung intuitiv wachsen. Und bei Impffragen geht es in den Familien noch konservativer zu als in der Berufswelt vor 50 Jahren: Es ist fast ausnahmslos die Mutter, die über die Impfungen der Kinder entscheidet, legen wiederum Forschungen der Universität Erfurt dar. Hat sie bisher gute Erfahrungen mit Impfungen gemacht, entschließt sie sich eher, ihr Baby impfen zu lassen. Macht sie dabei dann schlechte Erfahrungen, etwa, dass das Kind schrecklich schreit oder tagelang Fieber bekommt, verschiebt das ihre Haltung gegenüber der Impfung ins Negative.
Und selbst jene Menschen, die Impfungen kategorisch ablehnen, verblüffen die Forschung. Sie leben nämlich gehäuft in Süddeutschland, sind wohlhabend, selten arbeitslos und gebildet. Das ist ein Paradoxon: Denn wer gebildeter ist und mehr Geld hat, lebt ansonsten der Gesundheitsforschung zufolge per se gesünder. Aber in Bezug auf Impfungen nehmen Angehörige dieser Schicht offenbar lieber das Infektionsrisiko in Kauf, um subjektiv gefürchteten Nebenwirkungen zu entgehen. Vom „Gürtel der Impfgegner“ sprechen Versorgungsforscher plakativ und meinen damit Hochburgen wie Rosenheim oder Freiburg, in denen besonders viele Familien ungeimpfte Kinder haben.
Phänomen der sozialen Ansteckung
Nun ziehen Menschen wohl kaum wegen ihrer Meinung zur Impfung in diese Städte. Wie entsteht also ein Gürtel aus impfkritischen Menschen? An dieser Stelle liefert das Phänomen der sozialen Ansteckung die schlüssigste Erklärung. Die Menschen lassen sich von einer Bemerkung einer Nachbarin beeinflussen, und wenn in jenen Regionen häufiger mal die Impfung infrage gestellt wird, macht das einen Unterschied. Das soziale Umfeld und die Einstellung der Kontaktpersonen beeinflussen die eigene Haltung.
Hinzu kommt, dass eine skeptische Haltung gerade in Baden-Württemberg Tradition hat, meint Hunkler. Dort hat Rudolf Steiner die Waldorf-Schulen gegründet, um die sich eine Community gebildet hat, die schon lange dem medizinischen Normalbetrieb sehr kritisch gegenübersteht. Der Sozialwissenschaftler spricht aus eigener Erfahrung: „Wenn die Hebamme sagt: ‚Ach, diese Impfung braucht es jetzt nicht gleich‘, macht das viel.“