„Ortszeit Deutschland“: Steinmeier sieht Deutschland bei Erinnerungsarbeit gefordert
Einen „Schlussstrich“ unter die Aufarbeitung der NS-Geschichte darf es aus Sicht des Bundespräsidenten nicht geben. Auch für die Bundeswehr sei Geschichtsbewusstsein unerlässlich.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht die Aufarbeitung der NS-Geschichte weiter als Pflichtaufgabe für Deutschland. „Wo immer man unterwegs ist in der Welt, erlebt man das Gegenteil von einem Schlussstrich. Man verlangt von uns, dass wir uns mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen“, sagte Steinmeier im Rahmen seiner „Ortszeit Deutschland“ im Gespräch mit Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in Stadtallendorf.
Zwar werde respektiert, dass Deutschland einen Prozess der Aufklärung und Selbstaufklärung durchlaufen habe, doch gebe es wenig Verständnis dafür, „dass einige jedenfalls fordern, dass wir diese Erinnerungsarbeit abbrechen“, so der Bundespräsident.
Es gebe genügend Kräfte, „die demokratische Institutionen infrage stellen, bekämpfen oder versuchen, eine Politik gegen das sogenannte System zu machen“. Auch im Umgang mit der Tradition der Bundeswehr gelte es, sensibel für mögliche „Kipppunkte“ zu sein, „die wir möglichst nicht erreichen sollten“, sagte Steinmeier.
Gemeinsam mit den Soldaten hatte der Bundespräsident sich zuvor im Dokumentations- und Informationszentrum Stadtallendorf über die Geschichte der Stadt im Landkreis Marburg-Biedenkopf informiert, auf deren Gelände einst die europaweit größte Sprengstoff-Produktionsstätte im Zweiten Weltkrieg angesiedelt war. Rund 20.000 Zwangsarbeiter aus 29 Nationen wurden hier ausgebeutet.
Russlands Krieg gegen Ukraine: „Beispiellose Opferung junger Soldaten“
Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sagte Steinmeier: „Eine solche beispiellose Opferung von jungen Soldaten, nicht mal nur russischen, sondern mittlerweile auch nordkoreanischen Soldaten, haben Sie doch seit 1945 in dieser Form nicht mehr erlebt.“
Auf Steinmeiers Frage, was an dem Bundeswehrstandort von der Zeitenwende zu spüren sei, erklärte Major Florian Frost von der Division Schnelle Kräfte: „Wir sind alle im Frieden und in einer Zeit der Abrüstung irgendwie groß geworden.“ Nun müsse man sich mit Wiederaufrüstung, Landes- und Bündnisverteidigung auseinandersetzen, mit Themen wie „Töten und getötet werden“. Auch die Personalgewinnung beschäftige den Divisionsstandort intensiv.
Angst und Unsicherheit im Familienkreis
Eine Soldatin berichtete, dass im Familienkreis Angst und Unsicherheit zu spüren sei. Ihr Mann sei ebenfalls bei der Bundeswehr, und während der Weihnachtszeit sei sie mit der Frage konfrontiert worden: „Was passiert denn, wenn beide los müssen?“
Im Anschluss an das Gespräch legte Steinmeier an der Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Münchmühle einen Kranz nieder und legte als Zeichen der Anteilnahme auch einen Stein auf das Eisentor. Für den Nachmittag stand ein Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern bei einer „Kaffeetafel kontrovers“ zu Themen wie Zuwanderung und Integration auf Steinmeiers Programm und am Abend der Besuch einer Vereins- und Sportlergala.
Stadtallendorf im Landkreis Marburg-Biedenkopf ist die erste hessische und die insgesamt 14. Station im Rahmen der Reihe „Ortszeit Deutschland“, bei der der Bundespräsident bewusst kleinere Städte abseits der Metropolen bereist und dort für einige Zeit seine Amtsgeschäfte aufnimmt.