[REQ_ERR: 526] [KTrafficClient] Something is wrong. Enable debug mode to see the reason. Kolumne Daddy Issues: Depressiv als Vater: Als ich nur noch wegwollte – Beste Nachrichten

Kolumne Daddy Issues: Depressiv als Vater: Als ich nur noch wegwollte

Kolumnist Sebastian Tigges über seine Depression als junger Vater, verpasste Momente mit seinen Kindern und seine Rettung durch eine Therapie – ein schonungslos ehrlicher Einblick.

Ich wollte einfach nur weg. Weg von meinem Kind. Weg von den fünf Bausteinen, die es zum fünfunddreißigsten Mal an diesem Vormittag aufeinanderstapelte. 

Süß anzuschauen, der Pullover mit den Händen seiner Urgroßmutter gestrickt. Ich sitze zwei Meter entfernt angelehnt an ein Regal und habe schlicht keine Kraft, weiter Bausteine zu stapeln. Nicht die körperliche und vor allem nicht die mentale Kraft. Ich fühle mich leer, ich möchte einfach nur ins Bett und die Decke über meinen Kopf, über mein Leben ziehen. Ich schaue auf die Uhr, noch neun Stunden bis zur (nur vermeintlichen) Erlösung. Bis endlich Schlafenszeit ist.

Gleichzeitig habe ich Angst vor der Nacht, die wieder unruhig wird, wenn ich es überhaupt schaffe, einzuschlafen, bevor mein Kind wieder aufwacht. Immer wieder schaue ich auf die Uhr. Die Zeit vergeht ebenso wenig wie mein schlechtes Gewissen. Warum fühle ich es nicht – die große Liebe, von der alle sprechen? Warum fühle ich nichts? Ich möchte zur Toilette gehen. Aber ich darf nicht, werde mit eindeutigen Signalen aus dem Mund meines Kindes gebeten, bei ihm zu bleiben. Mein Kopf platzt. Alles woran ich denken kann: Wann wird es anders, wann wird es besser? Wieso bin ich so ein hoffnungslos schlechter Vater?

Verpasste Zeit, die für immer verloren ist

Wenn ich heute an diese Zeit meiner noch jungen Vaterschaft zurückdenke, kommen mir die Tränen. Dann weine ich um die Zeit, die ich verpasst habe. Ich war gar nicht wirklich da. Physisch war ich präsent, ständig präsent. Psychisch befand ich mich in einem dunklen, schweren Nebel. Ich war depressiv. Das wusste ich damals jedoch nicht. 

Ich kann mich noch sehr gut an die Situation erinnern, die für mich den Anstoß gab, die in mir die Erkenntnis geweckt hat, dass ich Hilfe brauche. Ich ging wie jeden Tag in dieser Zeit sehr lange mit meinem Kind in der Babytrage immer dieselben, auf Lärm eingehend geprüften Wege. Ich hörte das Hörbuch von Kurt Krömer „Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“. In diesem beschreibt Krömer seine Erfahrungen mit Depressionen. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Das war es! So fühlte ich mich! Genau so. Beinahe euphorisch war ich angesichts dieser möglichen Erklärung für meinen Zustand.

Ich rief einige Zeit später eine Bekannte an, von der ich wusste, dass sie seit langer Zeit mit Depressionen zu kämpfen hatte. Ich schilderte ihr, wie es mir ging. Der Zweifel lag dabei immer auf meiner Zunge: „Ich habe doch keine Depression, ich bin einfach nur ein Versager!“ Ich sagte ihr, ich könne ja eigentlich nicht wirklich depressiv sein, denn schließlich schaffte ich es ja noch, jeden Morgen aufzustehen und mich um mein Kind und den Haushalt zu kümmern. 

Ihre Antwort kam prompt und schlicht: „Warte nicht, bis es so weit kommt, lass dir helfen.“ Ich rief umgehend meinen Hausarzt an. Der verwies mich an einen Psychotherapeuten, zwei Monate später hatte ich ein Erstgespräch. Das war meine Rettung. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wäre ich diesen Schritt nicht gegangen.

Sebastian Tigges: „Ich spielte es herunter“

Damals versuchte ich hin und wieder, mich anderen Menschen anzuvertrauen, ihnen von meiner Überforderung, meiner Erschöpfung, meiner Leere zu berichten. Doch aus meinem Mund kamen immer nur zynische Floskeln: „Na ja, du weißt ja, wie das ist, ist halt viel alles“ (immer lächelnd). Ich spielte es herunter. Schließlich sind doch alle Eltern von (kleinen) Kindern ständig am Rand des Nervenzusammenbruchs. Wieso also klagen. Doch im Inneren habe ich mich gefragt: Wie halten die anderen das aus? Bin ich denn der Einzige, der so maßlos überfordert ist, dass ich am liebsten einfach verschwinden möchte? Wieso berichten andere Eltern von den Herausforderungen, so als wären es eben das: Herausforderungen. Während es sich in mir so anfühlte, als wäre es das Schlimmste, was mir je passiert ist.

Meine Partnerin war immer für mich da. Sie sah, dass es mir nicht gut ging. Wollte mir helfen. Mich motivieren, aus meiner Lethargie herauszukommen. Für Außenstehende ist es sehr schwer, eigentlich nicht möglich aus meiner Sicht, vor allem auch in Partnerschaften, einen depressiven Menschen/Partner zu verstehen, geschweige denn, ihm zu helfen. Ich war eine Belastung für die Beziehung. Das kann ich rückblickend sagen. Damals, ohne die Erkenntnis, dass ich krank war, zog ich mich zurück. Aus Scham, nicht zu genügen. Lust verspürte ich gar nicht. Ich war schnell gereizt, wir stritten viel und ich zog mich immer mehr zurück in mich selbst, wo mehr Leid, noch düstere Gedanken warteten.

Aktuell, ohne Depression, kann ich mich kaum noch hineinfühlen in den damaligen Zustand. Kann nur vage nachvollziehen, wie es mir damals ging. Ich kann grob umschreiben, was ich dachte und fühlte (bzw. nicht fühlte), doch es ist ein wenig so, als würde ich über einen anderen Menschen berichten. Es klingt in diesem Zusammenhang vielleicht merkwürdig, aber den Unterschied zu meinem Zustand heute, nach drei Jahren Psychotherapie inklusive eines über viermonatigen Aufenthalts in einer Tagesklinik, kann ich sehr gut fassen. Natürlich bin ich kein anderer Mensch ohne die Depression. Natürlich spüre ich Überlastung, Überforderung, Erschöpfung. Aber sie sind nicht mehr existenziell.

In kleinen Situationen ist der Unterschied greifbar

Am deutlichsten, geradezu mit den Händen greifbar, wird dieser Unterschied in winzig kleinen, scheinbar alltäglichen Situationen. Wenn ich meine Kinder dabei beobachten darf, wie sie jauchzend mit dem Laufrad einen Hügel heruntersausen, dann fühle ich etwas: Freude (manchmal auch Sorge). Wenn ich abends meinen Kindern etwas koche, dann nervt das zwar manchmal, weil ein langer Tag hinter uns liegt, aber es ist nicht mehr so, als wären die Wassergläser, die ich zum Tisch trage, mit Blei gefüllt. Wenn ich abends mit meinen Kindern im Bett liege und ihnen aus einem Buch vorlese, dann kann ich das oft – Achtung, großes Wort! – genießen. Ich kann mich an der Situation erfreuen und habe Gefühle wie Dankbarkeit, dass ich so ein großes Glück habe. Es ist nicht mehr so, als wäre jedes einzelne vorgelesene Wort ein Sechstausender, den ich erklimmen muss.

Wenn ich nur eins in meinem bisherigen Leben anders machen dürfte: Ich hätte mir früher Hilfe gesucht. Unzählige Momente in den Baby-Jahren meiner Kinder hätte ich gerne anders in Erinnerung. Beziehungsweise überhaupt in Erinnerung, denn der schwarze Nebel hat sie mir vorenthalten. Wenn ich nur einen einzigen Menschen durch das Schreiben dieser Zeilen dazu motivieren kann, sich Hilfe zu suchen, bin ich froh. Psychotherapie hat mich zu einem besseren Vater gemacht. Und damit meine ich nicht, dass mir irgendetwas leicht von der Hand geht. Care-Arbeit ist (auch) ein Knochenjob. Punkt. Care-Arbeit mit Depressionen kann sich anfühlen wie die wahrhaftige Hölle auf Erden.

So viel wertvolle Zeit habe ich vergeudet mit den Gedanken: Das ist normal, es liegt an mir, ich muss mich nur mehr anstrengen, so ist das Leben nun mal, ich muss nur durchhalten, irgendwann wird es vielleicht wieder besser, anderen geht es sicherlich schlechter, und wer bin ich, dass ich mir herausnehme, mental krank zu sein? 

Ich habe eine dringliche Botschaft: Es ist nicht normal. Es gibt Wege daraus. Es ist eine Krankheit. Sie ist behandelbar. Nur leider sieht man sie den Betroffenen nicht an. Niemand sieht eine Depression. Ich habe auch gelacht in meiner schlimmsten Phase der Depression, ich schien für manche Nahestehende vielleicht sogar ganz normal. Während es in mir brannte. Oftmals haben Depressive bereits Strategien entwickelt, um zu verstecken, wie es ihnen geht. Auch vor sich selbst. Sprecht mit eurem Hausarzt, mit euren Liebsten, öffnet euch, erzählt, wie ihr euch fühlt – das allein kann schon so viel aufmachen, dass der nächste Schritt – eine Therapie – gar nicht mehr so unerreichbar weit weg erscheint.