Gelbhaar-Affäre: Bei den Grünen prallen jetzt zwei Welten aufeinander
Opfer, Täter oder beides? Die Affäre um den Abgeordneten Stefan Gelbhaar erschüttert die Grünen bis ins Mark. Die Partei sucht nach einem Ausweg.
Für Jette Nietzard ist die Sache eindeutig. Die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, sagt die Chefin der grünen Parteijugend. „Aber wir sind eine Organisation, und wir sind kein Gericht.“ Es gelte „nicht unbedingt moralisch das Gleiche wie gerichtlich“.
Es ist das erste Mal, dass sich die 26-Jährige öffentlich zum Fall des grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar äußert. Sein Kreisverband hat Gelbhaars erneute Kandidatur für den Bundestag verhindert, nachdem Vorwürfe der Belästigung gegen ihn erhoben wurden.
Dann allerdings stellte sich heraus, dass wesentliche Anschuldigungen gegen den 48-Jährigen wohl erfunden waren. Die Person, die sie erhob, existiert offenbar nicht. Der Rundfunk Berlin Brandenburg, der die vermeintlichen Vorwürfe öffentlich machte, zog seine Berichterstattung zurück. Sieben Personen allerdings halten weiterhin an ihren Meldungen bei der Ombudsstelle der Partei, an die sich Betroffene sexualisierter Gewalt wenden sollen, fest. Was genau dem Verkehrspolitiker darin vorgeworfen wird, ist nicht bekannt – die Vertraulichkeit des Verfahrens soll gewahrt bleiben.
Ist Gelbhaar Opfer oder Täter? Oder beides?
War es unter diesen Umständen richtig, Gelbhaars Kandidatur zu verhindern? Ist er Opfer? Oder Täter? Oder kann beides sein? Der Vorfall wühlt die Grünen auf – darunter liegt ein tieferer Konflikt, bei dem es für viele Parteimitglieder an ihr Grundverständnis geht. Es offenbaren sich zwei Welten, die nicht recht zueinander passen wollen, neben den vielen Abwägenden, die es auch gibt, und die nun die Zwischentöne betonen wollen.
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Nietzard jedenfalls sieht es so: „Wo Macht existiert, wird Macht missbraucht.“ Das passiere auch in einer feministischen Partei. „Was es aber bedeutet, in einer feministischen Partei zu sein, ist, dass Betroffenen geglaubt wird.“ Aus Sicht der Parteijugend sollen die Grünen weiter grundsätzlich auf der Seite der Betroffenen stehen.
Nur gilt das auch jetzt, da klar ist, dass zumindest einige der Vorwürfe, mutmaßlich die schwerwiegenden, fingiert waren? Und dafür gar nicht mehr so eindeutig feststeht, wer hier eigentlich Betroffener ist?
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Özcan Mutluhatte bereits seinen Parteiaustritt erklärt. Es sei „heuchlerisch und beschämend, einen Abgeordneten mit falschen Anschuldigungen derart skrupellos kaltzustellen“, heißt es in seinem Austrittsschreiben.
„Wir sind eine Rechtsstaatspartei“
Nach der Äußerung von Nietzard sieht offenbar auch der ehemalige langjährige Bundestagsabgeordnete Volker Beck eine Grenze überschritten: „Jetzt reicht es“, schreibt der heutige Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in den sozialen Medien. „Wir sind eine Rechtsstaatspartei.“ Man könne Betroffenen nur glauben, wissend, dass sie tatsächlich betroffen seien.
Die Grünen verstehen sich als eine Partei, die den Feminismus, die Gleichberechtigung, die Rechte von Frauen wichtig nimmt. Ihre sogenannte Ombudsstelle sei „Anlaufstelle für Vorfälle sexualisierter Gewalt“, so heißt es auf der Webseite. Es gehe dabei explizit darum, die „Betroffenengerechtigkeit“ in den Vordergrund zu stellen.
Die Stelle ist eine Lehre, die die Partei aus der sogenannten Pädophilie-Debatte gezogen hat, eine historische Verirrung aus den Anfangsjahren der Grünen, die die Partei ausgerechnet mitten im Wahlkampf 2013 eingeholt hatte. Ausgerechnet diese Stelle steht nun mit im Zentrum der Gelbhaar-Affäre, die den Wahlkampf 2025 zu überschatten droht.
Der Fokus auf die Betroffenen ist ein wichtiger Ansatzpunkt jahrelanger Me-too-Debatten. Die Bewegung erhielt Aufwind, nachdem 2017 dem Hollywoodproduzenten Harvey Weinstein sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde. Bei Me-too geht es auch darum, dass es für Frauen oft schwer ist, ihnen geschehenes Unrecht nachzuweisen. Dass es um Machtstrukturen geht, dass manche der Vorwürfe vor Gericht nicht zu Verurteilungen führen, weil die Vorfälle oft ohne Zeugen geschehen und am Ende allzu oft Aussage gegen Aussage steht – was nicht bedeuten muss, dass kein Unrecht geschehen ist.
Ein „Bärendienst“ für die Sache
In Hintergrundgesprächen mit Grünen fällt dieser Tage immer wieder das Wort „Bärendienst“. Egal wie der Fall Gelbhaar am Ende ausgeht, scheint bereits jetzt klar: Dem Kampf gegen sexuelle Gewalt und Benachteiligung, den hier viele kämpfen, wurde erheblicher Schaden zugefügt.
In den gesellschaftlichen Debatten zu dem Thema fällt seit jeher das Argument, Frauen könnten diese Vorwürfe gezielt als Waffe einsetzen, um Männern zu schaden – gegen die öffentliche Verurteilung könnten sich diese kaum zur Wehr setzen. Dass nun mindestens Teile der Vorwürfe gegen Gelbhaar fingiert waren, liefert diesem Argument Munition. Männer, die sich erschüttert über die womögliche Falschverurteilung zeigen, die sogar selbst Angst äußern, dass sie Opfer einer solchen, wie sie sagen, „Kampagne“ werden könnten, finden sich auch an der grünen Basis.
18 Grüne aus Gelbhaars Kreisverband Berlin-Pankow wollten vor einer Versammlung am Dienstag dieser Woche zunächst erreichen, dass der Kreisverband sich bei ihm entschuldigt, dafür, dass man „ihn ohne klare Aufklärung der schweren Vorwürfe als Bundestagskandidaten abgesetzt“ habe.
Doch dazu kam es am Ende nicht. Die Versammlung wurde nicht öffentlich abgehalten, allerdings in einem Raum im Erdgeschoss eines Kulturzentrums. Hinter großen Glasscheiben sah man auch von außen, wie Gelbhaar im Raum mit umherging und mit Parteifreunden sprach. Nein, verstecken, das mag er sich nicht.Wenn Metoo zur Waffe wird – Kommentar. 14.30
Am Ende der Versammlung stand ein Kompromiss: Man verurteilte gemeinsam, dass die mutmaßliche Fälschung nicht nur die Partei, sondern „vor allem auch mögliche betroffene Frauen“ schädige. Man hielt fest, dass auch Gelbhaar „Opfer erfundener Vorwürfe“ geworden sei, wodurch ihm politisch wie persönlich schwerer Schaden entstanden sei. „Dies bedauern wir ausdrücklich.“ Zu einer offiziellen Entschuldigung kam es jedoch explizit nicht, auch weil sieben weitere Personen an ihrer Beschwerde gegen Gelbhaar bei der Ombudsstelle festhalten.
Die Spitze der Bundespartei formuliert das ähnlich. Man bemüht sich um Ausgewogenheit. Um die Klärung der Vorgänge und der weiteren vorliegenden Meldungen soll sich nun eine Kommission kümmern. Die Grünen beauftragten Annemarie Lütkes, einst grüne Justizministerin in Schleswig-Holstein, und Jerzy Montag, Ex-Abgeordneter und außerberuflicher Richter am bayerischen Verfassungsgerichtshof, mit dem Fall. Sie sollen auch die bisherigen Strukturen auf den Prüfstand stellen.
Egal was am Ende steht: Der Schaden ist angerichtet – für die Grünen, für die Debatte um sexualisierte Gewalt, für Betroffene. Vielleicht steht am Ende der Klärung auch, dass Gelbhaar zu Unrecht um seine politische Karriere gebracht wurde. Und dann?
Für Dienstag war auf Gelbhaars Webseite eine Bürgersprechstunde in seinem Pankower Wahlkreis angekündigt. Er selbst tauchte dann doch nicht auf. Vor der Tür des Ladenlokals traf man vereinzelte Parteimitglieder, die ihm „Mut zusprechen“ wollten.
Einer, der mit seinem Klapprad vor der verschlossenen Tür kehrtmachte, rief im Wegfahren: „Diese ganze Scheiße!“ Der Aussage dürften wohl die meisten Grünen zustimmen – wenn auch vielleicht aus unterschiedlichen Gründen.